
Meine Sicht der Dinge Teil 4
Dies ist ein nachdenklicher Artikel zum Umgang mit dem traditionellen Karate-Do.
Immer wieder finde ich im Web Zitate und Fotos von historischen Karate-Meistern mit wichtigen Grundsatz-Aussagen zum Thema Karate-Do. Was passiert dann? Gelesen, gut gefunden, abgespeichert, weitergemacht wie bisher. Warum? Warum denken wir nicht weiter? Warum lösen wir uns nicht ein Stück und schauen uns das Karate einmal mit etwas Abstand aus der Vogelperspektive an?
Mir fällt auf, daß häufig auf die traditionellen Wurzeln verwiesen wird ohne dem Sinn-Inhalt der traditionellen Botschaft, z.B. der von Meister Funakoshi genannten Regeln und Prinzipien zum Karate-Do tatsächlich zu folgen.
Ich möchte mich hier nicht an Karatestile im Einzelnen richten, sondern unsere Kunst als Ganzes betrachten und Funakoshi’s Regeln nur beispielhaft nutzen.
Das Karate in Deutschland orientiert sich als traditionelles Karate oft an den Trainingsformen die in den 1950er ‑60er und ‑70er Jahren von der Japanischen Karate Association durch die seinerzeit besten Sport-Athleten von Japan aus in die Welt exportiert wurden.
Ziel dieser Organisation war verbreitet nicht, der Export der Karatekunst oder das im Karate vorhandenen Know-How zur Selbstverteidigung zu verbreiten, sondern eine weltweit agierende Sport-Organisation aufzubauen und zu etablieren. Folglich lehrten uns die Gesandten dieser Zeit das, was sie selber am besten konnten — Karate als Sport. Ich glaube an dieser Stelle nicht erläutern zu müssen, dass dies nicht die Tradition des Karate-Do gewesen ist, sondern ein zu dieser Zeit neu aufgekommener Bereich, der politisch gewollt war um das Karate in der Welt zu verbreiten und sich dabei sportlich messen zu können.
Zurück zum Thema: Warum sind alte Grundsatzaussagen oft nicht mehr als Zitate?
Ein kreativer Umgang mit den im Karate gebotenen Inhalten erfolgt großteilig nicht. Das Überdenken vorgegebener Methoden und Inhalte und ein Infragestellen bisheriger Methoden sowie eine Überprüfung von althergebrachten Techniken dahingehend ob sie in der heutigen Zeit praktikabel und anwendbar sind, fehlt ebenfalls auch häufig. Dabei war es Funakoshi selber, der in seinen 20 Regeln erläuterte: Die Welt ändert sich, also müssen es die Kampfkünste auch tun.
Häufig sehe ich Trainingsinhalte welche von einem Trainer vorgegeben werden und von der gesamt Gruppe 1 zu 1 nachgeahmt werden müssen, unabhängig davon ob die vorgegebene Aufgabe für den Einzelnen aufgrund gegebener Umstände von Größe, Gewicht, Alter oder körperlichen Fähigkeiten, überhaupt funktionieren.
Hierzu sagte Funakoshi: “Wandle dich in Abhängigkeit vom Gegner.” Selbstverständlich gehört eine hohe Anzahl an Wiederholungen mit in ein geführtes, langfristig aufbauendes Karate-Training um Perfektion der Technik und der Formen zu erreichen. Dennoch war es auch wieder Gichin Funakoshi, der zur Flexibilität und Kreativität schon in seinen Regeln aufrief, indem er sagte der Anfänger brauche feste Regeln und Stände aber der Fortgeschrittene bewegt sich frei und natürlich.
Nicht zuletzt erklärte er in seinen Regeln: “Versuche dich täglich an etwas Neuem!”
Hierzu stellen sich mir dann sofort einige Fragen:
- Warum trainieren wir im Karate — Jahr ein Jahr aus die gleichen Techniken ohne diese zu variieren und kreativ damit umzugehen?
- Warum zeigen wir und erwarten wir bei hochgradulierten Karateka, in fortgeschrittenen Dan-Prüfungen, immer noch tiefste Stände und größte Körperspannung, obwohl diese Eigenschaften und Kriterien bereits mehrfach bei vorangegangenen Prüfungen abgefragt und erfolgreich dargeboten worden sind, (denn sonst würde es ja nicht jetzt zu einer neuen Prüfung kommen)?
- Warum erlauben wir nicht den fortgeschrittenen Karateka sich frei, in höheren Ständen, kreativ, flexibel und auch rund zu bewegen und dies als ein Zeichen von gesteigertem Können durch Veränderung und Weiterentwicklung Ihrer Techniken zu akzeptieren?
- Waum gilt oft nicht die alte Weisheit: Je höher der Gürtel, umso kürzer die Anspannungsphase?
Ich bin mir beim Schreiben dieses Artikels durchaus bewusst dass dies ein streitbarer Inhalt ist. Dennoch!
Mit der Veröffentlichung dieses Artikels möchte ich auf diese Missstände hinweisen und zum Nachdenken hinsichtlich einer Veränderung anregen. Während sich der Bereich des Sports von Jahr zu Jahr weiterentwickelt und professionalisiert, bleibt der Bereich des Breitensports regelmäßig in den Trainingsformen von damals hängen und versäumt eine Weiterentwicklung zu einer modernen Kampfkunst.
Ich glaube ernsthaft, würde Meister Funakoshi heute noch leben und sein Training im heutigen Japan ausführen, er selber würde es nicht mehr in der Form tun, wie er es in seiner Zeit getan hat und weiter glaube ich nicht, dass er in einem Land irgendwo auf der Welt erwarten würde, dass dort heute ein Karate von damals praktiziert wird.
Warum traue ich mich zu dieser Aussage?
Weil nicht so beständig ist wie der Wandel. Weil das unbedingte Festhalten an alten Formen ohne vorsichtige Anpassungen an die jeweils heutige, moderne Zeit und deren Anforderungen, ein Rückschritt ist und nicht in dieser Form als positiv zu bewerten.
Weiter lasse ich mich auf diese Aussage ein, weil es auch in der Karate-Historie immer diejenigen waren, die neue Wege gegangen sind und neue Dinge entwickelt haben, die den Dingen neue Namen gegeben und das Karate insgesamt vorwärts entwickelt haben die uns im Gedächtnis geblieben sind. Heute erinnern und beziehen wir uns an die Personen der Karate-Historie die sich getraut haben Dinge anders zu machen und neue Wege zu gehen, denn auch Funakoshi war eine dieser Personen. Er hat nicht einfach weitergemacht was seine Meister ihn gegeben haben, sondern das Beste genommen was Itosu und Asato ihn gelehrt haben und hat es zu seinem Stil gemacht. Er hat sein Karate betrieben und er würde sich sicher wünschen, daß Kreativität und Mut sein Karate hier da und dort weiterentwickeln um es zu immer neuer Stärke wachsen zu lassen.
Euer
Christian Wedewardt