Kihon, was ist das über­haupt? — Ver­such einer Stand­ort­be­stim­mung

Ein Arti­kel zum The­ma Kihon von Karatepraxis-Trai­ner, Jür­gen Höl­ler

Exakt aus­ge­rich­te­te Rei­hen, die bahn­auf, bahn­ab mit Kiai und grim­mi­gem Gesichts­aus­druck sich bemü­hen, mög­lichst gro­ße Löcher in die Luft zu schla­gen und zu tre­ten, der Trai­ner ermahnt sei­ne Schü­ler, noch tie­fer im Zen­kutsu-Dachi zu ste­hen und auch nach der x‑ten Wie­der­ho­lung noch explo­si­ver zu agie­ren.…

Ein Bild, das sich in tau­sen­den von Dojos welt­weit so oder so ähn­lich dar­stellt. Jede und jeder macht das Glei­che und ver­sucht, einer vor­ge­ge­be­nen, stil­spe­zi­fi­schen Ide­al­norm zu ent­spre­chen, unge­ach­tet von Grö­ße, Alter, Gewicht, per­sön­li­chen Han­di­caps etc. Für Fans von Mili­tär­pa­ra­den oder gleich­ar­ti­gen Ver­an­stal­tun­gen bestimmt ein erhe­ben­der Anblick…

Für Fans von Mili­tär­pa­ra­den oder gleich­ar­ti­gen Ver­an­stal­tun­gen bestimmt ein erhe­ben­der Anblick…

So weit, so gut…oder doch nicht?!?

Die­ser Essay behan­delt die Funk­ti­on von Kihon und davon abge­lei­tet zehn Punk­te, die – nach Mei­nung des Ver­fas­sers – erfüllt sein müs­sen, damit das Kihon-Trai­ning effek­tiv und effi­zi­ent ist.

Effek­ti­vi­tät in die­sem Zusam­men­hang meint, daß ein bestimm­tes Ziel wie z.B. Kampf­fä­hig­keit, ob in der Selbst­ver­tei­di­gung ( per­sön­lich zie­he ich den Begriff Selbst­schutz vor, da er umfas­sen­der ist ) oder im Kum­ite, durch das Trai­ning tat­säch­lich ange­steu­ert wird.

Effi­zi­enz dage­gen beinhal­tet, daß das Ziel mög­lichst öko­no­misch erreicht wird.

Zur Ver­deut­li­chung las­sen sich als Ana­lo­gie die Begrif­fe Kom­pass und Uhr her­an­zie­hen. Es hilft nichts, in sehr kur­zer Zeit eine bestimm­te Stre­cke zu bewäl­ti­gen (= Effi­zi­enz ), wenn die Rich­tung falsch ist (= Effek­ti­vi­tät ).

Defi­ni­ti­on:

Die Funk­ti­on von Kihon-Trai­ning ist es, Tech­ni­ken modell­haft zu erler­nen und in Annähe­rung an ein bio­me­cha­ni­sches Opti­mum in den Anwen­dungs­sys­te­men des Kara­te nutz­bar zu machen.

Unter Modell­sys­te­men wer­den hier klas­si­sches Kihon, sti­li­sier­te Part­ner­übun­gen wie Ippon‑, Sanbon‑, Gohon-Kum­ite und Kata ver­stan­den. Ziel die­ses Trai­nings ist es, eine „ per­fek­te Tech­nik „ ( 100%) nach Stil­vor­ga­ben, die dar­über hin­aus auch iden­tisch repro­du­zier­bar sein soll, zu ent­wi­ckeln.

Hand­lungs­füh­ren­de Leit­li­nie ist eine Form­prä­zi­si­on, d.h., auch die 1000-ste Wie­der­ho­lung soll iden­tisch mit der ers­ten sein. Bei der Kata bedeu­tet das, Aus­gangs­punkt gleich End­punkt. Das bedeu­tet aber auch, daß der Ein­zel­ne nie die­ses Ziel, die 100%-ige Form­prä­zi­si­on, erreicht bzw. errei­chen kann!

Anwen­dungs­sys­te­me dage­gen stre­ben in ihrem Trai­ning kei­ne 100% an, dazu ist der Kon­text in der Selbst­ver­tei­di­gung / Kumite/ Kata-Bun­kai zu unge­wiß, dyna­misch, kom­plex und per­ma­nent in Ver­än­de­rung begrif­fen.

Tech­ni­ken müs­sen in spe­zi­fi­schen Kon­tex­ten trai­niert wer­den und sie müs­sen nur „ gut genug“ sein, um Wir­kung zu erzie­len. Statt einer Form­prä­zi­si­on geht es hier um eine Ziel­prä­zi­si­on, d.h. auch unter einer sub­op­ti­ma­len Bedin­gung ( Stress, ungüns­ti­ge Aus­gangs­po­si­ti­on etc. ) kann mit einer Tech­nik getrof­fen und Wir­kung erzielt wer­den.

Die Tech­ni­ken, die für den Wett­kampf trai­niert wer­den, bil­den eine unter den gege­be­nen Wett­kampf­re­geln zah­len­mä­ßig stark redu­zier­te Aus­wahl aus dem Gesamt­spek­trum des Kara­te.

Gesichts­punk­te wie poten­ti­el­le Gefähr­lich­keit, gute Sicht­bar­keit für die Bewer­tung durch die Kampf­rich­ter, Zuschau­er­ge­schmack ( spek­ta­ku­lä­re Tech­ni­ken wer­den beson­ders gut bewer­tet ) sind Grund­la­gen der Aus­wahl.

Kom­ple­men­tär dazu sind die Tech­ni­ken für den Selbstschutz/ Selbst­ver­tei­di­gung zu sehen.

Faust­re­gel:

Alle ver­bo­te­nen Tech­ni­ken im Wett­kampf eig­nen sich für das SV-Trai­ning!

An ers­ter Stel­le steht also für den ein­zel­nen Kara­te­ka die Fra­ge:

„ Wofür will ich Kara­te trai­nie­ren?“

Jemand, der nur für den Wett­kampf trai­niert, kann nicht erwar­ten, auto­ma­tisch auch gut in SV-Situa­tio­nen zu sein und umge­kehrt gilt das Glei­che.

( Falls jemand den Sinn sei­nes Kara­te-Trai­nings in der Per­fek­tio­nie­rung der Kata sieht, dann sind die nach­fol­gen­den Aus­füh­run­gen nicht von Bedeu­tung ).

Die Lösung besteht in einer Spe­zia­li­sie­rung auf einer brei­ten Grund­la­ge. Die Auf­ga­be des Leh­rers ist es, die­sen Pro­zess zu beglei­ten und indi­vi­du­ell die Stär­ken und beson­ders geeig­ne­ten Tech­ni­ken zu erar­bei­ten und nicht alle in eine vor­ge­ge­be­ne Scha­blo­ne zu pres­sen!

Was soll also im Kihon trai­niert wer­den?

Nach der lan­gen Vor­re­de hier die zehn Punk­te ( die natür­lich kei­nen Anspruch auf Voll­stän­dig­keit erhe­ben! )

1. Kor­rek­te Bewe­gungs­bahn ( gerad­li­nig, gekrümmt ) mit Ein­satz des gesam­ten Kör­pers.

Leit­fra­ge: Wel­che Mus­kel­ket­ten müs­sen wie ein­ge­setzt wer­den, damit mög­lichst viel vonder Kör­per­mas­se in die Tech­nik ein­geht?

2. Der Auf­treff­win­kel

Er soll 90° zur Ziel­flä­che sein, um so viel Ener­gie wie mög­lich zu trans­fe­rie­ren.

3. Ein­dring­tie­fe der Tech­nik

Der Ziel­punkt der Tech­nik liegt im Ziel und nicht vor oder auf dem Ziel. Nach Mei­nung des Ver­fas­sers müs­sen auch Wett­kampf-Kara­te­ka erst die­sen Punkt erler­nen, bevor sie für den Wett­kampf wie­der „zurück­bau­en ( sun dome)“. Wird dies nicht zuerst gelernt, wer­den Illu­sio­nen über die Wirk­sam­keit von Tech­ni­ken gezüch­tet.

4. Distanz

Es gibt für jede Tech­nik eine Opti­mal­di­stanz, eine Maxi­mal­di­stanz, d.h. eine Distanz, inner­halb der ein Kara­te­ka ohne Selbst­ge­fähr­dung noch Wir­kung erzie­len kann und eine Mini­mal­di­stanz, die kür­zes­te Distanz, in der eine Tech­nik noch sinn­voll aus­ge­führt wer­den kann.

Tech­ni­ken soll­ten aus allen drei Distan­zen trai­niert wer­den, damit sie im dyna­mi­schen Gesche­hen varia­bel ver­füg­bar sind.

5. Posi­ti­on zum Geg­ner

Die Posi­ti­on fron­tal zum Geg­ner ist die gefähr­lichs­te, da die­ser alle sei­ne „ Waf­fen“ nut­zen kann. Das bedeu­tet, daß eine Distanz­ver­kür­zung oder auch ‑ver­län­ge­rung zum Geg­ner in Win­keln zur Kampf­li­nie (= direk­te Ver­bin­dungs­li­nie zwi­schen bei­den Kämp­fern am Beginn einer Kampf­si­tua­ti­on ) erfol­gen muß. Ziel ist es, den „ Blind Spot“ ( peri­phe­re Wahr­neh­mung des Geg­ners ist ein­ge­schränkt oder nicht mehr vor­han­den) an der Sei­te oder im Rücken des Geg­ners für den eige­nen Angriff zu nut­zen.

6. Kraft­ent­fal­tung und ‑über­tra­gung bei nicht opti­ma­len Bedin­gun­gen

Durch die unvor­her­seh­ba­re Dyna­mik einer SV- bzw. Wett­kampf­si­tua­ti­on muss auch bei ein­schrän­ken­den Bedin­gun­gen eine wirk­sa­me Tech­nik mög­lich sein.

Mer­ke: Tech­nik muß nicht 100% sein, aber gut genug!

7. Beweg­li­che Zie­le ansteu­ern

Wie schon erwähnt geht es bei den Anwen­dungs­sys­te­men um Ziel­prä­zi­si­on, gera­de auch bei beweg­li­chen Zie­len. Erschwe­rend kommt hin­zu, daß ein mensch­li­cher Kör­per als Ziel kei­ne ebe­nen Flä­chen wie z.B. ein Schlag­pols­ter auf­weist. Trotz­dem muß der Kara­te­ka ein Gefühl für wirk­sa­me Tref­fer am Kör­per ent­wi­ckeln. Der Part­ner dafür kann koope­ra­tiv sta­tisch oder dyna­misch / her­aus­for­dernd / kon­trär agie­ren.

8. Tref­fer absor­bie­ren ler­nen

Durch wil­lent­li­che Expo­si­ti­on gegen­über geg­ne­ri­schen Tref­fern las­sen sich durch Aus­at­mung, Mus­kel­span­nung, Ver­än­de­rung des Auf­treff­win­kels, mini­ma­le Distanz- und Posi­ti­ons­än­de­run­gen die­se neu­tra­li­sie­ren. Es geht dar­um, bei Tref­fern nicht kampf­ent­schei­dend getrof­fen zu wer­den.

9. Kon­di­tio­nie­rung der Impact­flä­chen

Die schöns­ten Tech­ni­ken nut­zen nichts, wenn die Impact­flä­chen nicht dar­an gewöhnt sind, den bal­lis­ti­schen Schock beim Auf­tref­fen zu absor­bie­ren. Des­halb müs­sen die Kon­takt­stel­len zum geg­ne­ri­schen Kör­per ( Fäus­te, Unter­ar­me, Schien­bei­ne, Füße) als End­stre­cke der Kraft­über­tra­gung durch Maki­wa­ra, Schlag­pols­ter, Sand­sack etc. kon­di­tio­niert wer­den, um eige­ne Ver­let­zun­gen zu ver­mei­den und Ver­trau­en in die eige­nen Kör­per­waf­fen zu ent­wi­ckeln.

10. Mul­ti­tas­king, spe­zi­ell der Hän­de

Eine Hand lei­tet den geg­ne­ri­schen Angriff ab / stört z.B. das Gleich­ge­wicht / kon­trol­liert / checkt / nimmt die geg­ne­ri­sche Sicht, die ande­re Hand schlägt, stößt, reißt o.ä. Am bes­ten geschieht das nach dem Prin­zip der Gleich­zei­tig­keit, also nicht sequen­ti­ell, um die Zeit­struk­tur zu ver­kür­zen.

Von daher ist auch die Sinn­haf­tig­keit des Hiki­te kri­tisch zu hin­ter­fra­gen!

Betrach­tet man das klas­si­sche Kihon-Trai­ning unter der Per­spek­ti­ve der vor­ge­stell­ten zehn Punk­te, so sieht der Leser, daß nur Punkt 1 und even­tu­ell noch Punkt 2 abge­deckt wer­den. Die Fra­ge, die sich bei dem Zeit­auf­wand für das Kihon-Trai­ning her­kömm­li­cher Art stellt, ist, ob bei 2‑maligem Trai­ning in der Woche es zeit­öko­no­misch sinn­voll ist, auf die­se Art zu trai­nie­ren.

Eine Inte­gra­ti­on von Part­ner­trai­ning, mit oder ohne Hilfs­mit­tel, för­dert den Lern­pro­zess, macht den Betei­lig­ten mehr Spaß durch mehr Viel­sei­tig­keit und belässt das Trai­ning von Tech­ni­ken nicht im luft­lee­ren Raum, son­dern bezieht die Situa­ti­ons­pa­ra­me­ter mit ein, die auch eine kämp­fe­ri­sche Situa­ti­on prä­gen.

Der vor­lie­gen­de Essay ver­steht sich als ein Plä­doy­er für einen erwei­ter­ten Kihon-Begriff. Egal, ob das bevor­zugt trai­nier­te Anwen­dungs­sys­tem im Dojo Wett­kampf-Kum­ite oder Selbst­schutz­trai­ning ist, es gewin­nen alle Betei­li­gen bei der Ein­be­zie­hung der vor­ge­stell­ten Kate­go­rien in ihr Trai­ning! Die Fol­ge­rung für das Kihon-Trai­ning aus den vor­her­ge­hen­den Aus­füh­run­gen: Soviel Part­ner­trai­ning wie mög­lich, Solo­trai­ning nur, wenn es nötig ist.

Viel Spaß bei der Umset­zung!

Jür­gen Höl­ler